Pubertät - Wenn Erziehen nicht mehr geht
Gelassen durch stürmische Zeiten
Familientherapeut Jesper Juul arbeitet seit 35 Jahren mit Eltern und Kindern.
Mit diesem Leitfaden hilft er Familien durch die stürmischen Zeiten der Pubertät: gelassen bleiben, statt "Turbo-Erziehung", Optimismus statt Schuldzuweisung.
Zehn...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Pubertät - Wenn Erziehen nicht mehr geht “
Familientherapeut Jesper Juul arbeitet seit 35 Jahren mit Eltern und Kindern.
Mit diesem Leitfaden hilft er Familien durch die stürmischen Zeiten der Pubertät: gelassen bleiben, statt "Turbo-Erziehung", Optimismus statt Schuldzuweisung.
Zehn Praxisbeispiele zeigen, wie's besser funktioniert.
Klappentext zu „Pubertät - Wenn Erziehen nicht mehr geht “
»Juul ist eine Lichtgestalt der modernen Pädagogik.«DER SPIEGEL
In der Pubertät braucht es neue Wege für ein Miteinander, denn Erziehung wie in Kindertagen nützt nichts mehr: Der renommierte Familientherapeut Jesper Juul gibt in diesem Bestseller Antwort auf brennende Elternfragen und zeigt, dass es auch anders geht. Kommunikation und Beziehung sind nun gefragt. Die Lösungsansätze wurden gemeinsam mit Eltern und Jugendlichen erarbeitet und erprobt. Sie geben Orientierung, die wirklich weiterhilft!
- So klappt Kommunikation mit Jugendlichen, die dichtgemacht haben
- Zahlreiche Beispiele zu brennenden Elternfragen
Lese-Probe zu „Pubertät - Wenn Erziehen nicht mehr geht “
Pubertät - Wenn Erziehen nicht mehr geht von Jesper Juul Man spricht von mir gerne als
Erziehungsexperten. Das, möchte ich betonen, ist absolut nicht
zutreffend. Meiner Meinung nach gibt es gar keine Erziehungsexperten.
Es mag vielleicht Experten geben in körperlicher oder
sprachlicher Entwicklung, in Gehirnforschung etc. - aber nicht
in Erziehung. In der Erziehung gibt es nicht den einen Weg, der
richtig wäre. Ich weiß nicht, wie man es richtig macht. In Dänemark
oder in Deutschland glauben Eltern zum Beispiel, es sollte
eine feste Bettzeit für Kinder geben. Doch wenn Sie einmal
südlich der Alpen waren, wissen Sie, dass man das in Italien
oder in Spanien ganz anders sieht. Worüber ich etwas weiß,
ist, was man tun kann, wenn man nicht zufrieden ist, wenn man
wütend oder traurig oder genervt ist. Darüber weiß ich sehr
vieles.
Als Eltern möchten wir unsere Wertvorstellungen, unsere
Meinungen und Ansichten gerne an unsere Kinder weitergeben.
Und unsere Kinder machen mit, sie kooperieren. Bis zum
Einsetzen der Pubertät: Dann hört es langsam - oder auch ganz
plötzlich - auf.
Wenn die Kinder etwa zwölf Jahre alt geworden sind, ist es
für Erziehung zu spät. Das sagen die Kinder uns auch, aber wir
hören es meist nicht. Am Anfang drücken sie es sehr diplomatisch
aus, doch wenn wir es nicht verstehen, müssen sie lauter
werden, manchmal viel lauter. Oder sie sprechen mit ihrem
Körper.
Das sogenannte Problem oder Symptom ist dabei nicht so
wichtig. Wichtig ist die Person, die das Symptom trägt. Wir
können das Problem nicht lösen, wir können jedoch Menschen
darin unterstützen, destruktive Systeme, Perspektiven und Verhalten
ins Konstruktive zu wandeln.
... mehr
Pubertät ist eine Tatsache,
keine Krankheit
Es gibt wirklich sehr wenige Probleme in unserem Leben. Es
gibt jedoch eine ganze Menge an Tatsachen, auf die wir uns in
einer mehr oder weniger problematischen Weise beziehen können.
Pubertät ist eine dieser Tatsachen.
Was ist Familie? Familie ist Beziehung. Was all die vielen
verschiedenen Familien - Großfamilien, Kleinfamilien, Patchworkfamilien,
alleinerziehende Mütter und Väter, Stieffamilien
- verbindet, ist die Beziehung zwischen ihren Mitgliedern.
Das, was zwischen den Menschen geschieht, ist das Wichtigste.
Wenn wir darüber reden, was richtig und was falsch ist, was
man tun oder nicht tun soll, wenn wir also über Fragen von
Moral sprechen, dann reden wir über den Inhalt. Was ist unser
Konflikt, worin besteht das Problem, welche Regeln sollen wir
aufstellen, was ist die Lösung? Und diese Fragen, die den Inhalt
betreffen, sind auch wichtig. Wichtiger noch als der Inhalt ist
jedoch der Prozess.
Die wichtigste Frage ist nicht die nach dem Was, sondern die
nach dem Wie.
Ein Beispiel dazu: Eine Mutter einer dreijährigen Tochter
schrieb mir, sie wisse nicht mehr weiter. »Jeden Morgen müssen
wir pünktlich aus dem Haus, meine Tochter in den Kindergarten,
ich in die Arbeit. Es wurde immer schwieriger. Vor einiger
Zeit habe ich mit folgendem Trick angefangen. Ich habe eine
Tüte Gummibärchen ins Auto gelegt und meiner Tochter gesagt:
Wenn du jetzt mitkommst, dann gibt es Gummibärchen.
Das hat die ersten drei Tage funktioniert. Jetzt steht meine Tochter
in der Tür und sagt: Ich mag keine Gummibärchen, ich will
was anderes. Was Tolleres.«
Es fällt leicht, sich vorzustellen, wie das die nächsten 14 Jahre
weitergeht. Nun kann man sich fragen: Sind Gummibärchen
für Kinder gefährlich? Nein, natürlich nicht. Ist es gefährlich,
sein Kind mit Drohungen oder Versprechungen zu manipulieren?
Ja, das ist schon eher gefährlich. Die Frage ist: Warum
mache ich das? Weil ich sonst keine andere Lösung weiß. Es ist
wichtig, sich selbst die Frage nach dem Warum zu stellen. Warum
handle ich so?
Entscheidend ist also weniger der Inhalt (»Sind Gummibärchen
gut oder schlecht?«), sondern vielmehr der Prozess. Nicht:
Worüber reden oder streiten wir? Sondern: Wie kommunizieren
wir? Wie ist unsere Beziehung?
Welche Verantwortung können Kinder und
Jugendliche übernehmen?
Den Begriff »pubertierende Jugendliche« schätze ich nicht besonders.
Warum werden Jugendliche über ihre Hormone identifiziert?
Beinahe jeden Tag treffe ich mit Erziehungsfachleuten
in Ausbildungen oder Fortbildungen zusammen, und ich höre,
wie sie in den Pausen über ihre eigenen Kinder sprechen. Sie
fragen: »Wie alt ist dein Sohn?«, und wenn der andere sagt: »14«,
dann heißt es: »Oh, dann ist es gerade sicher schwer.« Oder
wenn das Gegenüber sagt: »Elf«, dann heißt es: »Oje, dann geht
es bald los.« So als ob die Jugendlichen das Problem oder die
Ursache der Probleme wären. Dabei machen die Jugendlichen
nur, was sie machen müssen: wachsen.
Wenn ich mit Familien arbeite, reden wir daher nicht über
Ursachen. Wir reden nicht über Schuld. Wir sprechen lieber
über die Prozesse, die in der Familie ablaufen und wie man sie
verbessern kann. In jeder Familie, in jeder Beziehung gibt es
Elemente, die destruktiv, und solche, die konstruktiv sind. Die
gilt es zu identifizieren und gemeinsam nach Wegen zu suchen,
die destruktiven Prozesse zu verändern.
Vor einigen Jahren führte ich in Dänemark eine große Umfrage
mit 1000 werdenden Eltern durch. Ich bat sie, ein paar
Jahre in die Zukunft zu blicken und sich zu fragen, was sie gerne
mit ihrer Erziehung erreicht haben würden, wenn ihr Kind
14 oder 15 Jahre alt wäre. Was ist ihnen wichtig?
Bei den Antworten lag Verantwortlichkeit immer an Platz
eins oder zwei einer Liste von zehn Möglichkeiten. Anschließend
bat ich einzelne Teilnehmer, mir ein Beispiel dafür zu geben:
»Was genau verstehen Sie unter Verantwortlichkeit?« Wenn
eine Person dann antwortete, geschah es oft, dass ihr Partner
eine ganz andere Vorstellung davon hatte, was Verantwortlichkeit
überhaupt bedeutet. Also ist die Frage: Wie verstehen wir
Verantwortung?
Wenn ich die Welt, in der ich vor 45 Jahren 15 war, vergleiche
mit der Welt von heutigen 15-Jährigen, scheint das manchmal
ein ganz anderer Planet zu sein. Die Herausforderungen und
Anforderungen sind ganz andere. Die Anforderung, die Erwachsene
damals an meine Generation stellten, war eigentlich
nur eine: gehorsam zu sein. Es gab zwei Dinge, die als besonders
gefährlich galten: Sex und Alkohol. Unsere Lebenswirklichkeit
hat sich seither sehr verändert. Blinder Gehorsam ist
heute nicht mehr angebracht. Tagtäglich müssen wir viele persönliche
Entscheidungen treffen. In meiner Erziehung zu Hause
oder in der Schule wurde ich jedoch darauf nicht vorbereitet.
Was heißt es, für sich selbst verantwortlich zu sein? Ich muss
Verantwortung übernehmen dafür, was ich sage und was ich
tue. Kinder sind schon sehr früh in der Lage, für sich selbst verantwortlich
zu sein. Von ihren (biologischen) Voraussetzungen
wäre das möglich. Kinder können beispielsweise ab etwa fünf
Jahren für ihren eigenen Schlaf verantwortlich sein: dass sie ins
Bett gehen und dass sie aufstehen. Das liegt jedoch nicht in un-
serer Tradition, in unserer Art und Weise, mit diesen Dingen
umzugehen. Wir sind es eher gewohnt, dass wir Fünfjährige
morgens fünfmal aufwecken und 15-Jährige 15-mal. Wir glauben,
das sei notwendig.
Traditionell übernehmen Erwachsene für vieles die Verantwortung.
»Mama und Papa wissen, was du brauchst und was
für dich gut ist«: wann das Kind ins Bett gehen soll (»Du musst
aber müde sein, es ist schon halb zehn«), wann und was es essen
soll (»Nein, du kannst jetzt keinen Hunger haben, du hast erst
vor einer Stunde etwas gegessen«), ob es Durst hat oder nicht.
Jedoch haben Kinder in den letzten Jahrzehnten in bestimmten
Aspekten mehr Einfluss erlangt als Kinder vorheriger Generationen:
Was sie anziehen wollen oder womit sie spielen möchten,
dürfen viele heute selbst entscheiden. Als Kind kann man heute
eine eigene Meinung haben - und wenn man Glück hat, hören
die Eltern sogar zu. Heutzutage wird in Familien über vieles
diskutiert, worüber es zu meiner Jugend einfach keine Diskussion
gab. Damals hieß es: »Das geht nicht, das erlauben wir nicht,
und damit basta.« Hier wird heute mehr verhandelt, und das ist
sehr wichtig.
Wofür können Kinder und Jugendliche selbst verantwortlich
sein und wofür nicht? Für uns als Eltern ist es schwierig, uns
diese Frage immer wieder zu beantworten und dabei zu erkennen,
warum wir die Frage so beantworten, wie wir es tun. Wenn
ich mir beispielsweise überlege, ob mein 13-jähriger Sohn für
die Wahl seiner Freunde selbst verantwortlich sein kann, worum
geht es mir dann? Geht es wirklich nur um das Wohl des Kindes?
Oder geht es um mich? Um mein Selbstbild? Um mein
Image in der Familie, in der Nachbarschaft, in der Schule?
Es gibt keine einfache, klare Antwort darauf, wofür Kinder
selbst verantwortlich sein können und wofür nicht, keine Rezepte
oder Regeln, die immer richtig wären. Klar ist jedoch:
Wer heute als 13- oder 14-Jähriger oder als 25-Jähriger oder als
40-Jähriger in dieser Welt lebt, muss in der Lage sein, für sich
selbst Verantwortung zu tragen. Denn es gibt nur zwei Möglichkeiten:
Ich bin entweder für mich selbst verantwortlich, oder ich
bin Opfer - jemand anderer ist schuld.
Konsequenzen und Eigenverantwortlichkeit
Seit etwa 200 Jahren beklagen sich Eltern darüber, dass junge
Leute mit 14, 15 nicht über Konsequenzen nachdenken wollen.
Der Junge will ohne Helm Motorrad fahren, die Mutter sagt:
»Dann kannst du bei einem Unfall sterben!« Der Junge sagt: »Da
passiert schon nichts.« Eltern denken in einem solchen Fall oft:
Ah, er rebelliert. Doch lässt der aktuelle Stand der Gehirnforschung
vermuten, dass diese Reaktion nichts mit Rebellion zu
tun hat. Vielmehr ist in diesem Alter der Teil des Gehirns, der
für Konsequenzen zuständig wäre, außer Gefecht gesetzt. Jugendliche
können gar nicht darüber nachdenken. Neurobiologen
sprechen davon, dass etwa 85 Prozent der Jugendlichen
dazu nicht in der Lage sind. Die Verbindungen im Gehirn, die
dazu nötig wären, funktionieren in dieser Zeit nicht. Das ist eine
biologische Tatsache, die man daher nicht persönlich nehmen
sollte. Der alte Witz, Jugendliche sollten mit einem Schild »Wegen
Umbau geschlossen« herumlaufen, ist gar nicht so falsch.
Allerdings wollen sie uns auch nicht zuhören, wenn wir sie darüber
aufklären möchten. Das bedeutet also, dass wir als Eltern
in dieser Zeit eine ganze Menge Angst und Sorgen ertragen
müssen. Doch das ist nichts Persönliches, nichts, das gegen uns
gerichtet wäre.
Wichtig ist es beim Thema Verantwortlichkeit, zwei Ebenen
auseinanderzuhalten. Es gibt Verantwortlichkeit meiner Familie
gegenüber: Was soll mein Beitrag der Gemeinschaft gegenüber
sein? Und dann gibt es die Verantwortung mir selbst gegenüber.
Diese beiden Ebenen werden sehr häufig vermischt. Oft nehmen
die Eltern die persönliche Verantwortung, die die Kinder
für sich selbst haben sollten, an sich. Als Gegenleistung wünschen
sie sich dann, dass die Kinder mehr Verantwortung für
die Gemeinschaft übernehmen. Solche Geschäfte gehen oft
schief, dazu sind die »Währungen« zu unterschiedlich.
Zur Klärung sind die folgenden Gedanken eines Vaters sehr
nützlich: »Verantwortung übernehmen heißt ja, sich über die
Konsequenzen, über die Folgen seines Tuns, klar zu sein und
diese Folgen auch auf sich zu nehmen. Gleichzeitig sagen Sie,
es ist eine neurobiologische Tatsache, dass Jugendliche in dem
Alter aus biologischen Gründen gar nicht in der Lage sind,
die volle Tragweite ihres Tuns zu erkennen und auf sich zu nehmen.
Also sind doch wir als Eltern genau gefordert, die möglichen
Konsequenzen abzusehen und zu intervenieren. Das ist
doch exakt der Konflikt, in dem wir alle stecken, die Sackgasse
aufgrund der unterschiedlichen Perspektiven. Für den Jugendlichen
ist es ja gar nicht einsehbar, wenn die Eltern die
Konsequenzen ausmalen, weil er sie gar nicht sieht. Wir reden
permanent aneinander vorbei.«
Natürlich ist es eine schöne Vorstellung, die Jugendlichen
würden eines Tages zu den Eltern kommen und sagen: »Hör
mal, ich habe gemerkt, dass ein Teil meines Gehirns nicht mehr
funktioniert. Kannst bitte du die nächsten Jahren die Entscheidungen
für mich treffen, und wenn ich soweit bin, dann komme
ich wieder und hole mir meine Entscheidungskompetenz wieder
zurück.« Doch das wird nicht passieren.
Ich benütze gerne den Begriff Sparringspartner. Ein Sparringspartner
bietet maximalen Widerstand und richtet minimalen
Schaden an. Es ist für Jugendliche sehr wichtig zu wissen:
Was denkt mein Vater? Was denkt meine Mutter? 99 Prozent
der Jugendlichen nehmen die Meinung ihrer Eltern sehr ernst,
wenn sich die Eltern die ersten Jahre in der Familie auch nur ein
bisschen qualifiziert haben. Jedoch gibt es kaum Jugendliche,
die ihren Eltern gegenüber offen zugeben, was sie denken. Wenn
also der Vater sagt: »Mit dem, was du da tun willst, bin ich absolut
nicht einverstanden. Das will ich auf keinen Fall!«, dann wird
der Jugendliche nicht dastehen und sagen: »Hm, wenn ich so
darüber nachdenke, hast du eigentlich Recht, Papa, danke.« Sie
müssen ihr Gesicht wahren. Das heißt jedoch nicht, dass die
Worte der Eltern keinen Einfluss haben. Entscheidend ist allerdings
die Frage, wie die Beziehung zu meinem Sohn, zu meiner
Tochter die ersten 13 Jahre war, denn auf diesem Fundament
baut alles auf. Es ist wie im richtigen Leben - es gibt keine perfekte
Lösung. Man kann es nicht lösen, man kann es nur leben
- mehr oder weniger gut. In den später noch folgenden
Briefen und Gesprächen werden wir sehen, wie man seinen
Umgang damit vielleicht so verändern kann, dass es für die Erwachsenen
besser ist. Und wenn es für die Erwachsenen besser
ist, ist es automatisch auch für die Jugendlichen besser.
Selbstverantwortung der Eltern und der fehlende
gesellschaftliche Konsens
Es gibt heute kaum gesellschaftlichen Konsens mehr. Was richtig
oder falsch ist, darüber gehen die Meinungen unserer Nachbarn
oder der Eltern der Klassenkameraden weit auseinander.
Wir müssen auch als Eltern verantwortlich sein: für unsere
Wertvorstellungen, für unsere Wünsche, für unsere Ansichten.
Dieser Prozess, dabei sinnvolle Antworten zu finden, ist anstrengend
und mühsam - und zwar für alle, nicht nur für die
Eltern. Oft ist es schwierig für uns, nicht nur uns selbst zu vertrauen,
sondern auch unseren Kindern.
In dieser Beziehung zwischen Eltern und Jugendlichen sind
mittlerweile neue Ambitionen entstanden. Wir wollen gerne
eine andere Beziehung zu unseren älter werdenden Kindern
pflegen, als die meisten von uns zu unseren eigenen Eltern hatten
oder haben. Viele Eltern möchten gerne irgendeine Art von
erwachsener Freundschaft aufbauen. Was brauchen wir dazu?
Auch hier müssen wir mit den Kindern lernen, verantwortlich
zu sein. Ich kann natürlich auch weiterhin Mutti oder Vati spielen,
eine bestimmte Rolle einnehmen. Doch dann gibt es keinen
Kontakt. Wenn ich Glück habe, bekomme ich schnell Enkelkinder
und kann dann diese Rolle weiterhin schauspielern. Doch
normalerweise wünschen wir uns keine Enkelkinder, wenn unsere
Kinder gerade einmal 17 oder 19 sind.
Wie können wir es also richtig machen? Gar nicht. Richtig
gibt es nicht. Wir können uns aber entscheiden: Was wollen wir?
Und dann können wir versuchen, in diese Richtung zu gehen.
Wir können uns auch fragen: Will ich meine Kinder lieben, oder
will ich bei meinen Kindern beliebt sein? Beides gleichzeitig ist
oft nicht möglich.
Genießen Sie Ihre Kinder!
Erziehung, die lediglich aus unserer Rollenvorstellung heraus
entsteht, hat keinen Zweck. Filmt man Eltern bei der alltäglichen
Kommunikation zu Hause und schaut die Aufnahmen
hinterher zusammen an, sind die Eltern oft entsetzt. »Rede ich
wirklich so?!?« Sie entdecken, dass sie erschreckend ähnlich mit
ihren Kindern kommunizieren, wie es ihre Eltern mit ihnen gemacht
haben. Doch diese Art der Sprache zu verändern scheint
für viele Erwachsene sehr schwierig zu sein und auch zu mühsam.
Wenn wir mit unseren Kindern sprechen und dabei unsere
»Elternuniform« anziehen oder unsere »Mutterstimme« auspacken,
werden unsere Worte in ein Ohr hineingehen und aus
dem anderen heraus. Diese Art von Erziehung fruchtet also
offenbar wenig. Das wissen die meisten Eltern und sind sehr
unglücklich darüber. Doch ist ihnen nicht unbedingt klar, was
stattdessen erzieht. Das, worauf es ankommt, geschieht häufig
gleichsam zwischen den Zeilen. Es ist die Stimmung, wie wir als
Eltern miteinander umgehen, wie wir mit anderen Menschen in
unserer Umgebung umgehen, der Prozess, wie wir als Familie
miteinander sind: All das erzieht.
Wenn Kinder in die Pubertät kommen, haben wir die Möglichkeit
zu sehen, was wir zusammen geschaffen haben. Wir
sind gemeinsam an diesem Punkt angekommen, wir Eltern saßen
im Fahrersitz, die Kinder haben kooperiert - sind wir zufrieden
mit dem, was daraus entstanden ist? Die meisten Eltern
sind zu diesem Zeitpunkt leider nicht zufrieden, und sie beginnen
mit einer Art Turboerziehung, um es in den letzten Minuten
richtig zu machen. Das ist nicht nur furchtbar, das ist auch
unverschämt. Und es funktioniert nicht. Eltern fragen dann:
Was sollen wir denn stattdessen tun? Wir können doch nicht dasitzen
und nichts tun, wenn wir sehen, dass unsere Kinder etwas
machen, womit wir nicht einverstanden sind.
Ein Vorschlag: Setzen Sie sich heute Abend hin, vielleicht für
eine halbe Stunde oder eine Stunde, schauen Sie Ihre Kinder an
und genießen Sie sie. »Das ist mein 13-jähriger Sohn oder meine
15-jährige Tochter ... All die Jahre haben wir gemeinsam
verbracht, jetzt ist er, ist sie so alt geworden - und wir haben das
ganz schön gut gemacht.«
Eltern entgegnen dann oft: »Ja, aber so gut ist das Ergebnis
auch wieder nicht. Wenn Sie meinen Sohn sehen würden ...«
Nun, darauf kann ich nur antworten, wenn Sie Perfektion suchen,
dann stellen Sie sich doch ein paar Minuten vor den Spiegel
und schauen sich selbst an. Das sollte eigentlich genug sein,
um sich von der Wunschvorstellung »Perfektion« zu verabschieden.
Ich halte das für eine ganz wichtige Grundübung: Schauen
Sie Ihr Kind an und bemerken Sie, worauf Ihr Fokus liegt. Achten
Sie auf das, was wunderbar ist, oder fällt Ihnen vor allem
das auf, was noch fehlt, was nicht in Ordnung ist?
Zu dem Zeitpunkt, wenn die Kinder etwa 15 sind, haben die
meisten Ehepaare die Phase bereits überstanden, in der man
seinen Wunschvorstellungen darüber nachhängt, wie der Partner
sein sollte und wie man ihn vielleicht verändern könnte.
Häufig durchlaufen wir nach der ersten Zeit der rosaroten Brille
eine Phase, in der man hofft, man könne den Partner irgendwo
zur Reparatur hinschicken und bekäme ihn perfekt wieder -
so, wie man ihn haben will. Wir alle merken irgendwann, dass
das nicht geht. Mit Kindern ist es nicht anders. Was unsere Kinder
in der Pubertät von uns brauchen, ab zwölf, 13, 14 Jahren,
ist eigentlich nur das: zu wissen, auf dieser Welt gibt es einen
oder zwei Menschen, die wirklich glauben, dass ich ok bin. Das
brauchen sie. Viele von uns haben keinen solchen Menschen in
unserem Leben. Mit einem kann man gut überleben, mit zwei
kann man wunderbar leben. Doch das ist nicht unsere Tradition
als Eltern. Wir verhalten uns eher wie Lehrer, sitzen mit einem
Rotstift da und schauen, was noch nicht richtig ist.
Das ist weder für die Kinder hilfreich noch für die Eltern.
Copyright © 2010 Kösel-Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlag: Griesbeck Design, München
Umschlagmotiv: mauritius images/Boris Lehner
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-466-30871-2
Pubertät ist eine Tatsache,
keine Krankheit
Es gibt wirklich sehr wenige Probleme in unserem Leben. Es
gibt jedoch eine ganze Menge an Tatsachen, auf die wir uns in
einer mehr oder weniger problematischen Weise beziehen können.
Pubertät ist eine dieser Tatsachen.
Was ist Familie? Familie ist Beziehung. Was all die vielen
verschiedenen Familien - Großfamilien, Kleinfamilien, Patchworkfamilien,
alleinerziehende Mütter und Väter, Stieffamilien
- verbindet, ist die Beziehung zwischen ihren Mitgliedern.
Das, was zwischen den Menschen geschieht, ist das Wichtigste.
Wenn wir darüber reden, was richtig und was falsch ist, was
man tun oder nicht tun soll, wenn wir also über Fragen von
Moral sprechen, dann reden wir über den Inhalt. Was ist unser
Konflikt, worin besteht das Problem, welche Regeln sollen wir
aufstellen, was ist die Lösung? Und diese Fragen, die den Inhalt
betreffen, sind auch wichtig. Wichtiger noch als der Inhalt ist
jedoch der Prozess.
Die wichtigste Frage ist nicht die nach dem Was, sondern die
nach dem Wie.
Ein Beispiel dazu: Eine Mutter einer dreijährigen Tochter
schrieb mir, sie wisse nicht mehr weiter. »Jeden Morgen müssen
wir pünktlich aus dem Haus, meine Tochter in den Kindergarten,
ich in die Arbeit. Es wurde immer schwieriger. Vor einiger
Zeit habe ich mit folgendem Trick angefangen. Ich habe eine
Tüte Gummibärchen ins Auto gelegt und meiner Tochter gesagt:
Wenn du jetzt mitkommst, dann gibt es Gummibärchen.
Das hat die ersten drei Tage funktioniert. Jetzt steht meine Tochter
in der Tür und sagt: Ich mag keine Gummibärchen, ich will
was anderes. Was Tolleres.«
Es fällt leicht, sich vorzustellen, wie das die nächsten 14 Jahre
weitergeht. Nun kann man sich fragen: Sind Gummibärchen
für Kinder gefährlich? Nein, natürlich nicht. Ist es gefährlich,
sein Kind mit Drohungen oder Versprechungen zu manipulieren?
Ja, das ist schon eher gefährlich. Die Frage ist: Warum
mache ich das? Weil ich sonst keine andere Lösung weiß. Es ist
wichtig, sich selbst die Frage nach dem Warum zu stellen. Warum
handle ich so?
Entscheidend ist also weniger der Inhalt (»Sind Gummibärchen
gut oder schlecht?«), sondern vielmehr der Prozess. Nicht:
Worüber reden oder streiten wir? Sondern: Wie kommunizieren
wir? Wie ist unsere Beziehung?
Welche Verantwortung können Kinder und
Jugendliche übernehmen?
Den Begriff »pubertierende Jugendliche« schätze ich nicht besonders.
Warum werden Jugendliche über ihre Hormone identifiziert?
Beinahe jeden Tag treffe ich mit Erziehungsfachleuten
in Ausbildungen oder Fortbildungen zusammen, und ich höre,
wie sie in den Pausen über ihre eigenen Kinder sprechen. Sie
fragen: »Wie alt ist dein Sohn?«, und wenn der andere sagt: »14«,
dann heißt es: »Oh, dann ist es gerade sicher schwer.« Oder
wenn das Gegenüber sagt: »Elf«, dann heißt es: »Oje, dann geht
es bald los.« So als ob die Jugendlichen das Problem oder die
Ursache der Probleme wären. Dabei machen die Jugendlichen
nur, was sie machen müssen: wachsen.
Wenn ich mit Familien arbeite, reden wir daher nicht über
Ursachen. Wir reden nicht über Schuld. Wir sprechen lieber
über die Prozesse, die in der Familie ablaufen und wie man sie
verbessern kann. In jeder Familie, in jeder Beziehung gibt es
Elemente, die destruktiv, und solche, die konstruktiv sind. Die
gilt es zu identifizieren und gemeinsam nach Wegen zu suchen,
die destruktiven Prozesse zu verändern.
Vor einigen Jahren führte ich in Dänemark eine große Umfrage
mit 1000 werdenden Eltern durch. Ich bat sie, ein paar
Jahre in die Zukunft zu blicken und sich zu fragen, was sie gerne
mit ihrer Erziehung erreicht haben würden, wenn ihr Kind
14 oder 15 Jahre alt wäre. Was ist ihnen wichtig?
Bei den Antworten lag Verantwortlichkeit immer an Platz
eins oder zwei einer Liste von zehn Möglichkeiten. Anschließend
bat ich einzelne Teilnehmer, mir ein Beispiel dafür zu geben:
»Was genau verstehen Sie unter Verantwortlichkeit?« Wenn
eine Person dann antwortete, geschah es oft, dass ihr Partner
eine ganz andere Vorstellung davon hatte, was Verantwortlichkeit
überhaupt bedeutet. Also ist die Frage: Wie verstehen wir
Verantwortung?
Wenn ich die Welt, in der ich vor 45 Jahren 15 war, vergleiche
mit der Welt von heutigen 15-Jährigen, scheint das manchmal
ein ganz anderer Planet zu sein. Die Herausforderungen und
Anforderungen sind ganz andere. Die Anforderung, die Erwachsene
damals an meine Generation stellten, war eigentlich
nur eine: gehorsam zu sein. Es gab zwei Dinge, die als besonders
gefährlich galten: Sex und Alkohol. Unsere Lebenswirklichkeit
hat sich seither sehr verändert. Blinder Gehorsam ist
heute nicht mehr angebracht. Tagtäglich müssen wir viele persönliche
Entscheidungen treffen. In meiner Erziehung zu Hause
oder in der Schule wurde ich jedoch darauf nicht vorbereitet.
Was heißt es, für sich selbst verantwortlich zu sein? Ich muss
Verantwortung übernehmen dafür, was ich sage und was ich
tue. Kinder sind schon sehr früh in der Lage, für sich selbst verantwortlich
zu sein. Von ihren (biologischen) Voraussetzungen
wäre das möglich. Kinder können beispielsweise ab etwa fünf
Jahren für ihren eigenen Schlaf verantwortlich sein: dass sie ins
Bett gehen und dass sie aufstehen. Das liegt jedoch nicht in un-
serer Tradition, in unserer Art und Weise, mit diesen Dingen
umzugehen. Wir sind es eher gewohnt, dass wir Fünfjährige
morgens fünfmal aufwecken und 15-Jährige 15-mal. Wir glauben,
das sei notwendig.
Traditionell übernehmen Erwachsene für vieles die Verantwortung.
»Mama und Papa wissen, was du brauchst und was
für dich gut ist«: wann das Kind ins Bett gehen soll (»Du musst
aber müde sein, es ist schon halb zehn«), wann und was es essen
soll (»Nein, du kannst jetzt keinen Hunger haben, du hast erst
vor einer Stunde etwas gegessen«), ob es Durst hat oder nicht.
Jedoch haben Kinder in den letzten Jahrzehnten in bestimmten
Aspekten mehr Einfluss erlangt als Kinder vorheriger Generationen:
Was sie anziehen wollen oder womit sie spielen möchten,
dürfen viele heute selbst entscheiden. Als Kind kann man heute
eine eigene Meinung haben - und wenn man Glück hat, hören
die Eltern sogar zu. Heutzutage wird in Familien über vieles
diskutiert, worüber es zu meiner Jugend einfach keine Diskussion
gab. Damals hieß es: »Das geht nicht, das erlauben wir nicht,
und damit basta.« Hier wird heute mehr verhandelt, und das ist
sehr wichtig.
Wofür können Kinder und Jugendliche selbst verantwortlich
sein und wofür nicht? Für uns als Eltern ist es schwierig, uns
diese Frage immer wieder zu beantworten und dabei zu erkennen,
warum wir die Frage so beantworten, wie wir es tun. Wenn
ich mir beispielsweise überlege, ob mein 13-jähriger Sohn für
die Wahl seiner Freunde selbst verantwortlich sein kann, worum
geht es mir dann? Geht es wirklich nur um das Wohl des Kindes?
Oder geht es um mich? Um mein Selbstbild? Um mein
Image in der Familie, in der Nachbarschaft, in der Schule?
Es gibt keine einfache, klare Antwort darauf, wofür Kinder
selbst verantwortlich sein können und wofür nicht, keine Rezepte
oder Regeln, die immer richtig wären. Klar ist jedoch:
Wer heute als 13- oder 14-Jähriger oder als 25-Jähriger oder als
40-Jähriger in dieser Welt lebt, muss in der Lage sein, für sich
selbst Verantwortung zu tragen. Denn es gibt nur zwei Möglichkeiten:
Ich bin entweder für mich selbst verantwortlich, oder ich
bin Opfer - jemand anderer ist schuld.
Konsequenzen und Eigenverantwortlichkeit
Seit etwa 200 Jahren beklagen sich Eltern darüber, dass junge
Leute mit 14, 15 nicht über Konsequenzen nachdenken wollen.
Der Junge will ohne Helm Motorrad fahren, die Mutter sagt:
»Dann kannst du bei einem Unfall sterben!« Der Junge sagt: »Da
passiert schon nichts.« Eltern denken in einem solchen Fall oft:
Ah, er rebelliert. Doch lässt der aktuelle Stand der Gehirnforschung
vermuten, dass diese Reaktion nichts mit Rebellion zu
tun hat. Vielmehr ist in diesem Alter der Teil des Gehirns, der
für Konsequenzen zuständig wäre, außer Gefecht gesetzt. Jugendliche
können gar nicht darüber nachdenken. Neurobiologen
sprechen davon, dass etwa 85 Prozent der Jugendlichen
dazu nicht in der Lage sind. Die Verbindungen im Gehirn, die
dazu nötig wären, funktionieren in dieser Zeit nicht. Das ist eine
biologische Tatsache, die man daher nicht persönlich nehmen
sollte. Der alte Witz, Jugendliche sollten mit einem Schild »Wegen
Umbau geschlossen« herumlaufen, ist gar nicht so falsch.
Allerdings wollen sie uns auch nicht zuhören, wenn wir sie darüber
aufklären möchten. Das bedeutet also, dass wir als Eltern
in dieser Zeit eine ganze Menge Angst und Sorgen ertragen
müssen. Doch das ist nichts Persönliches, nichts, das gegen uns
gerichtet wäre.
Wichtig ist es beim Thema Verantwortlichkeit, zwei Ebenen
auseinanderzuhalten. Es gibt Verantwortlichkeit meiner Familie
gegenüber: Was soll mein Beitrag der Gemeinschaft gegenüber
sein? Und dann gibt es die Verantwortung mir selbst gegenüber.
Diese beiden Ebenen werden sehr häufig vermischt. Oft nehmen
die Eltern die persönliche Verantwortung, die die Kinder
für sich selbst haben sollten, an sich. Als Gegenleistung wünschen
sie sich dann, dass die Kinder mehr Verantwortung für
die Gemeinschaft übernehmen. Solche Geschäfte gehen oft
schief, dazu sind die »Währungen« zu unterschiedlich.
Zur Klärung sind die folgenden Gedanken eines Vaters sehr
nützlich: »Verantwortung übernehmen heißt ja, sich über die
Konsequenzen, über die Folgen seines Tuns, klar zu sein und
diese Folgen auch auf sich zu nehmen. Gleichzeitig sagen Sie,
es ist eine neurobiologische Tatsache, dass Jugendliche in dem
Alter aus biologischen Gründen gar nicht in der Lage sind,
die volle Tragweite ihres Tuns zu erkennen und auf sich zu nehmen.
Also sind doch wir als Eltern genau gefordert, die möglichen
Konsequenzen abzusehen und zu intervenieren. Das ist
doch exakt der Konflikt, in dem wir alle stecken, die Sackgasse
aufgrund der unterschiedlichen Perspektiven. Für den Jugendlichen
ist es ja gar nicht einsehbar, wenn die Eltern die
Konsequenzen ausmalen, weil er sie gar nicht sieht. Wir reden
permanent aneinander vorbei.«
Natürlich ist es eine schöne Vorstellung, die Jugendlichen
würden eines Tages zu den Eltern kommen und sagen: »Hör
mal, ich habe gemerkt, dass ein Teil meines Gehirns nicht mehr
funktioniert. Kannst bitte du die nächsten Jahren die Entscheidungen
für mich treffen, und wenn ich soweit bin, dann komme
ich wieder und hole mir meine Entscheidungskompetenz wieder
zurück.« Doch das wird nicht passieren.
Ich benütze gerne den Begriff Sparringspartner. Ein Sparringspartner
bietet maximalen Widerstand und richtet minimalen
Schaden an. Es ist für Jugendliche sehr wichtig zu wissen:
Was denkt mein Vater? Was denkt meine Mutter? 99 Prozent
der Jugendlichen nehmen die Meinung ihrer Eltern sehr ernst,
wenn sich die Eltern die ersten Jahre in der Familie auch nur ein
bisschen qualifiziert haben. Jedoch gibt es kaum Jugendliche,
die ihren Eltern gegenüber offen zugeben, was sie denken. Wenn
also der Vater sagt: »Mit dem, was du da tun willst, bin ich absolut
nicht einverstanden. Das will ich auf keinen Fall!«, dann wird
der Jugendliche nicht dastehen und sagen: »Hm, wenn ich so
darüber nachdenke, hast du eigentlich Recht, Papa, danke.« Sie
müssen ihr Gesicht wahren. Das heißt jedoch nicht, dass die
Worte der Eltern keinen Einfluss haben. Entscheidend ist allerdings
die Frage, wie die Beziehung zu meinem Sohn, zu meiner
Tochter die ersten 13 Jahre war, denn auf diesem Fundament
baut alles auf. Es ist wie im richtigen Leben - es gibt keine perfekte
Lösung. Man kann es nicht lösen, man kann es nur leben
- mehr oder weniger gut. In den später noch folgenden
Briefen und Gesprächen werden wir sehen, wie man seinen
Umgang damit vielleicht so verändern kann, dass es für die Erwachsenen
besser ist. Und wenn es für die Erwachsenen besser
ist, ist es automatisch auch für die Jugendlichen besser.
Selbstverantwortung der Eltern und der fehlende
gesellschaftliche Konsens
Es gibt heute kaum gesellschaftlichen Konsens mehr. Was richtig
oder falsch ist, darüber gehen die Meinungen unserer Nachbarn
oder der Eltern der Klassenkameraden weit auseinander.
Wir müssen auch als Eltern verantwortlich sein: für unsere
Wertvorstellungen, für unsere Wünsche, für unsere Ansichten.
Dieser Prozess, dabei sinnvolle Antworten zu finden, ist anstrengend
und mühsam - und zwar für alle, nicht nur für die
Eltern. Oft ist es schwierig für uns, nicht nur uns selbst zu vertrauen,
sondern auch unseren Kindern.
In dieser Beziehung zwischen Eltern und Jugendlichen sind
mittlerweile neue Ambitionen entstanden. Wir wollen gerne
eine andere Beziehung zu unseren älter werdenden Kindern
pflegen, als die meisten von uns zu unseren eigenen Eltern hatten
oder haben. Viele Eltern möchten gerne irgendeine Art von
erwachsener Freundschaft aufbauen. Was brauchen wir dazu?
Auch hier müssen wir mit den Kindern lernen, verantwortlich
zu sein. Ich kann natürlich auch weiterhin Mutti oder Vati spielen,
eine bestimmte Rolle einnehmen. Doch dann gibt es keinen
Kontakt. Wenn ich Glück habe, bekomme ich schnell Enkelkinder
und kann dann diese Rolle weiterhin schauspielern. Doch
normalerweise wünschen wir uns keine Enkelkinder, wenn unsere
Kinder gerade einmal 17 oder 19 sind.
Wie können wir es also richtig machen? Gar nicht. Richtig
gibt es nicht. Wir können uns aber entscheiden: Was wollen wir?
Und dann können wir versuchen, in diese Richtung zu gehen.
Wir können uns auch fragen: Will ich meine Kinder lieben, oder
will ich bei meinen Kindern beliebt sein? Beides gleichzeitig ist
oft nicht möglich.
Genießen Sie Ihre Kinder!
Erziehung, die lediglich aus unserer Rollenvorstellung heraus
entsteht, hat keinen Zweck. Filmt man Eltern bei der alltäglichen
Kommunikation zu Hause und schaut die Aufnahmen
hinterher zusammen an, sind die Eltern oft entsetzt. »Rede ich
wirklich so?!?« Sie entdecken, dass sie erschreckend ähnlich mit
ihren Kindern kommunizieren, wie es ihre Eltern mit ihnen gemacht
haben. Doch diese Art der Sprache zu verändern scheint
für viele Erwachsene sehr schwierig zu sein und auch zu mühsam.
Wenn wir mit unseren Kindern sprechen und dabei unsere
»Elternuniform« anziehen oder unsere »Mutterstimme« auspacken,
werden unsere Worte in ein Ohr hineingehen und aus
dem anderen heraus. Diese Art von Erziehung fruchtet also
offenbar wenig. Das wissen die meisten Eltern und sind sehr
unglücklich darüber. Doch ist ihnen nicht unbedingt klar, was
stattdessen erzieht. Das, worauf es ankommt, geschieht häufig
gleichsam zwischen den Zeilen. Es ist die Stimmung, wie wir als
Eltern miteinander umgehen, wie wir mit anderen Menschen in
unserer Umgebung umgehen, der Prozess, wie wir als Familie
miteinander sind: All das erzieht.
Wenn Kinder in die Pubertät kommen, haben wir die Möglichkeit
zu sehen, was wir zusammen geschaffen haben. Wir
sind gemeinsam an diesem Punkt angekommen, wir Eltern saßen
im Fahrersitz, die Kinder haben kooperiert - sind wir zufrieden
mit dem, was daraus entstanden ist? Die meisten Eltern
sind zu diesem Zeitpunkt leider nicht zufrieden, und sie beginnen
mit einer Art Turboerziehung, um es in den letzten Minuten
richtig zu machen. Das ist nicht nur furchtbar, das ist auch
unverschämt. Und es funktioniert nicht. Eltern fragen dann:
Was sollen wir denn stattdessen tun? Wir können doch nicht dasitzen
und nichts tun, wenn wir sehen, dass unsere Kinder etwas
machen, womit wir nicht einverstanden sind.
Ein Vorschlag: Setzen Sie sich heute Abend hin, vielleicht für
eine halbe Stunde oder eine Stunde, schauen Sie Ihre Kinder an
und genießen Sie sie. »Das ist mein 13-jähriger Sohn oder meine
15-jährige Tochter ... All die Jahre haben wir gemeinsam
verbracht, jetzt ist er, ist sie so alt geworden - und wir haben das
ganz schön gut gemacht.«
Eltern entgegnen dann oft: »Ja, aber so gut ist das Ergebnis
auch wieder nicht. Wenn Sie meinen Sohn sehen würden ...«
Nun, darauf kann ich nur antworten, wenn Sie Perfektion suchen,
dann stellen Sie sich doch ein paar Minuten vor den Spiegel
und schauen sich selbst an. Das sollte eigentlich genug sein,
um sich von der Wunschvorstellung »Perfektion« zu verabschieden.
Ich halte das für eine ganz wichtige Grundübung: Schauen
Sie Ihr Kind an und bemerken Sie, worauf Ihr Fokus liegt. Achten
Sie auf das, was wunderbar ist, oder fällt Ihnen vor allem
das auf, was noch fehlt, was nicht in Ordnung ist?
Zu dem Zeitpunkt, wenn die Kinder etwa 15 sind, haben die
meisten Ehepaare die Phase bereits überstanden, in der man
seinen Wunschvorstellungen darüber nachhängt, wie der Partner
sein sollte und wie man ihn vielleicht verändern könnte.
Häufig durchlaufen wir nach der ersten Zeit der rosaroten Brille
eine Phase, in der man hofft, man könne den Partner irgendwo
zur Reparatur hinschicken und bekäme ihn perfekt wieder -
so, wie man ihn haben will. Wir alle merken irgendwann, dass
das nicht geht. Mit Kindern ist es nicht anders. Was unsere Kinder
in der Pubertät von uns brauchen, ab zwölf, 13, 14 Jahren,
ist eigentlich nur das: zu wissen, auf dieser Welt gibt es einen
oder zwei Menschen, die wirklich glauben, dass ich ok bin. Das
brauchen sie. Viele von uns haben keinen solchen Menschen in
unserem Leben. Mit einem kann man gut überleben, mit zwei
kann man wunderbar leben. Doch das ist nicht unsere Tradition
als Eltern. Wir verhalten uns eher wie Lehrer, sitzen mit einem
Rotstift da und schauen, was noch nicht richtig ist.
Das ist weder für die Kinder hilfreich noch für die Eltern.
Copyright © 2010 Kösel-Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlag: Griesbeck Design, München
Umschlagmotiv: mauritius images/Boris Lehner
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-466-30871-2
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Autoren-Porträt von Jesper Juul
Jesper Juul (1948-2019) war einer der bedeutendsten und innovativsten Familientherapeuten Europas, Konfliktberater und Gründer des Elternberatungsprojekts familylab international. Durch zahlreiche Seminare, Vorträge, Medienauftritte und erfolgreiche Elternbücher wurde er international bekannt. Seine respektvolle, gleichwürdige Art, mit Menschen umzugehen, beeindruckt Fachleute wie Eltern auch heute noch immer wieder neu.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jesper Juul
- 2010, 13. Aufl., 207 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Herausgegeben: Mathias Voelchert
- Verlag: Kösel
- ISBN-10: 3466308712
- ISBN-13: 9783466308712
- Erscheinungsdatum: 05.03.2010
Rezension zu „Pubertät - Wenn Erziehen nicht mehr geht “
»Ein sehr tiefgehendes und praktisches Buch über die Pubertät und den Umgang der Eltern damit, (...) das in erfrischender Weise fast ohne Fachausdrücke auskommt und dabei ausgesprochen lebensnah geschrieben ist.«
Pressezitat
»[...] verhilft seinen Lesern zu mehr Gelassenheit.« ZEIT Wissen
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