Das Rotohrmäuschen

I. Die Kinderstube eines besonderen
Mäuschens

Hinter einer alten Kirchenorgel wohnte eine Mäusefamilie. Mausvater und Mausmutter hatten Jahr für Jahr viele Kinder, die sie mit großer Sorgfalt erzogen. Erwachsen geworden, glichen sie ihren Eltern bis aufs Haar. Darauf waren diese sehr stolz.
Im vergangenen Frühjahr gebar die Mäusemutter wieder eine quirlige Schar Mäuslein. Da galt es, die nackten, stets hungrigen Kleinen emsig zu versorgen.
Dabei gediehen sie prächtig. Langsam wuchs ihr Fellchen und sie waren kaum mehr auseinander zu halten.
Allmählich zeigte es sich, dass ein Mäuschen doch etwas anders geraten war. Seine Öhrchen wuchsen stärker als die der Geschwister. Und die rosige Haut bekam eine tiefrote Farbe.
Das Rotohrmäuschen bemerkte selbst nicht, dass es sich von seinen Geschwistern abhob. Es fühlte sich ihnen ebenbürtig. Doch diese wollten bald nicht mehr mit ihm spielen und versuchten es sogar aus dem Nest zu drängen.
Die Eltern liebten es aber trotz seiner Besonderheit genauso wie die anderen. Sie waren sogar noch fürsorglicher zu ihm und nahmen es in Schutz, wenn in der Kinderstube das Gerangel zu heftig wurde.
Nachts, wenn Ruhe einkehrte und alle Kleinen schliefen, dachten Mausvater und Mausmutter nach, wie ihr Rotohrmäuschen einmal durchs Leben kommen würde.
Sie wussten, wie schwer es war, wenn man den Vorstellungen einer Gemeinschaft nicht entsprach. Es sei denn, das Anderssein ging mit so außergewöhnlichen Fähigkeiten einher, dass es den Gleichmachern stummen Respekt abnötigte.
Die Mäuseeltern wagten dies für ihr Kind fast nicht zu hoffen. Doch sie taten es insgeheim dennoch jeden Tag, weil es ihnen ans Herz gewachsen war.